Keim der Entspannung
1955 reist Adenauer nach Moskau: Gefangene kehren heim, der Osthandel startet – und die BRD ringt mit der Frage der Zweistaatlichkeit
Adenauers Moskau-Reise 1955: Gefangenenfreilassung, Osthandel und die Frage der Zweistaatlichkeit
Teaser
Vor 70 Jahren reiste Bundeskanzler Konrad Adenauer nach Moskau – ein Besuch, der die Weichen für die deutsch-sowjetischen Beziehungen stellte. Tausende Gefangene kamen frei, der Osthandel begann, und die Frage der Zweistaatlichkeit trat offen auf den Tisch. Doch die Reise hatte auch eine verdeckte Seite.
Die Ausgangslage: Blockade und Westintegration
Mitte der 1950er Jahre schien die deutsche Frage festgefahren. Die Sowjetunion hatte 1953 unmissverständlich erklärt, dass sie in ihrer Besatzungszone keinen Regimewechsel zulassen würde. Auch die westlichen Alliierten rückten von dem Ziel ab, die DDR unter westdeutsche Kontrolle zu bringen.
Für Adenauer bedeutete das einen harten Einschnitt. Seine ursprüngliche Strategie – mit der Stärke der NATO die DDR „heimzuholen“ – war gescheitert. Er konzentrierte sich nun darauf, die Bundesrepublik fest im Westen zu verankern. Am 6. Mai 1955 trat die BRD der NATO bei, das Besatzungsstatut entfiel, und Bonn gewann größere außenpolitische Spielräume.
Einladung aus Moskau
Kurz darauf nutzte die Sowjetunion die neue Lage. Am 7. Juni 1955 erreichte Bonn über die sowjetische Botschaft in Paris eine Einladung: Adenauer solle nach Moskau kommen, um über diplomatische Beziehungen, einen Handelsvertrag und die deutsche Frage zu sprechen.
Bemerkenswert war der versöhnliche Ton. Moskau betonte die hohen Kriegsverluste beider Völker und das gemeinsame Interesse, eine Wiederholung der Katastrophe zu verhindern.
Adenauer ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Er fürchtete, Moskau könnte die Westintegration untergraben, und musste zugleich verhindern, dass die Opposition im Bundestag aus möglichen Fortschritten politisches Kapital schlug.
Die Reise und die Gespräche
Am 8. September 1955 reiste Adenauer nach Moskau. Schon früh wurde deutlich: Die Sowjets wollten diplomatische Beziehungen – für sie gleichbedeutend mit der Anerkennung der Zweistaatlichkeit. Für Bonn war das ein rotes Tuch. Die Bundesregierung entwickelte bald darauf die Hallstein-Doktrin, die andere Staaten vor die Wahl stellte: Beziehungen entweder zur BRD oder zur DDR.
Innenpolitisch brauchte Adenauer jedoch ein greifbares Ergebnis. Er setzte auf die Rückkehr der deutschen Gefangenen. Zwar gab es nur das mündliche Versprechen von Ministerpräsident Nikolai Bulganin, doch die Sowjetunion hielt Wort. Zwischen Oktober 1955 und Januar 1956 kehrten fast 10.000 Menschen zurück – für Bonn ein großer Erfolg, für Moskau ohnehin beschlossen.
Ergebnisse: Osthandel und innenpolitischer Triumph
Die Heimkehr der Gefangenen brachte Adenauer wertvolle politische Punkte. Zwei Jahre später gewann die Union die Bundestagswahl mit absoluter Mehrheit.
Langfristig noch bedeutsamer war der Beginn des westdeutschen Osthandels. Was 1955 in Moskau verabredet wurde, entwickelte sich zu einem Motor des westdeutschen Wirtschaftsmodells und prägte die Beziehungen bis ins 21. Jahrhundert.
Die verdeckte Seite
Ein später enthüllter Aspekt wirft einen Schatten auf die Reise. Nach Aussagen eines ehemaligen CIA-Mitarbeiters war Adenauers Regierungsflugzeug mit amerikanischen Kameras ausgerüstet, um sowjetische Verteidigungsanlagen auszuspähen. Während Adenauer offiziell mit allen Ehren empfangen wurde, gingen die Filmrollen bereits in Wiesbaden zur Auswertung ein.
Fazit: Mehr als Symbolpolitik
Adenauers Moskau-Reise brachte keine Lösung der deutschen Frage. Doch sie markierte den Beginn offizieller Beziehungen zwischen Bonn und Moskau, sicherte die Rückkehr Tausender Gefangener und eröffnete den Osthandel.
Damit war der Besuch von 1955 mehr als symbolische Diplomatie. Er legte den Grundstein für die spätere Entspannungspolitik – und zeigt, wie eng innen- und außenpolitische Interessen miteinander verflochten waren.