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1. Der traditionelle Marxismus der Arbeiterbewegung Jede Diskussion des Stellenwerts, den die Marxsche Ökonomiekritik für eine Analyse des
1. Der traditionelle Marxismus der Arbeiterbewegung
Jede Diskussion des Stellenwerts, den die Marxsche Ökonomiekritik für eine Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus haben kann, stößt zunächst einmal auf eine Reihe verfestigter Vorstellungen über „Marxismus“ und die „ökonomische Theorie von Marx“, die nicht nur die breitere Öffentlichkeit, sondern auch einen guten Teil der sozialwissenschaftlichen Debatten beherrschen. Dabei verdanken sich diese Vorstellungen weniger einer Auseinandersetzung mit dem Marxschen Werk als vielmehr der Wirkungsgeschichte der Marxschen Ideen in der Arbeiterbewegung.
Bereits mit den popularisierenden Spätschriften von Engels setzte in der Sozialdemokratie des späten 19. Jahrhunderts ein Prozeß ein, in dessen Verlauf sich das unabgeschlossene Unternehmen der Marxschen Kritik in eine umfassende Weltanschauung verwandelte, die ein Konglomerat aus bürgerlichem Fortschrittsdenken, simplifizierter Hegelscher Philosophie und Versatzstücken Marxscher Begriffe darstellte. Diese Weltanschauung lieferte für die Propaganda der Arbeiterparteien einfache Formeln und für die bildungshungrige aber von der (bildungs)bürgerlichen Welt weitgehend ausgeschlossene Arbeiterbewegung geistige Orientierung. Ihre Fortsetzung und weitere Verflachung erfuhr diese Weltanschauung dann im „Marxismus-Leninismus“, der in der Sowjetunion seit den 30er Jahren zur bloßen Legitimationsideologie von Partei und Staat verkam.[1]
Dieser weltanschauliche Marxismus der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung wurde seit den 20er Jahren von verschiedenen Seiten in Frage gestellt. Mit den Arbeiten von Korsch (1923) und Lukács (1923) sowie der vom Frankfurter Institut für Sozialforschung ausgehenden Kritischen Theorie nahm ein „westlicher Marxismus“ (Anderson 1978) Gestalt an, der eine der Ursachen für die Krise der Arbeiterbewegung in den Dogmatisierungen des traditionellen Marxismus erblickte. Allerdings konzentrierte sich die Kritik in erster Linie auf dessen philosophische und geschichtstheoretische Grundlagen: eine auf universale „Bewegungsgesetze“ reduzierte Dialektik sowie den weit verbreiteten Geschichtsdeterminismus. Weitgehend unkritisch wurde dagegen die ökonomietheoretische Seite des traditionellen Marxismus behandelt: Zwar wurde in den 20er und 30er Jahren heftig über tatsächliche oder vermeintliche Resultate der Marxschen Ökonomie debattiert (wie die „Verelendungs-“ oder die „Zusammenbruchstheorie“), der theoretische Raum aber, in welchem der traditionelle Marxismus die „ökonomische Lehre von Marx“ auffaßte, wurde auch vom „westlichen Marxismus“ lange Zeit nicht hinterfragt. Und es ist gerade dieser theoretische Raum, der auch heute noch die gängigen Vorstellungen von einer „marxistischen Ökonomie“ weitgehend prägt.
Konstitutiv für diesen theoretischen Raum ist die Verwandlung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie in eine politische Ökonomie, die das von der klassischen politischen Ökonomie abgesteckte Feld der Theoriebildung nicht grundsätzlich verläßt. Marx gilt seit Engels und Kautsky als der große Ökonom der Arbeiterbewegung, der die Arbeitswertlehre der Klassik übernahm, auf ihrer Grundlage die Ausbeutung der Arbeitskraft aufgezeigt und entgegen den Harmonieversprechungen der bürgerlichen Ökonomie das periodische Auftreten von immer stärkeren Wirtschaftskrisen nachgewiesen hat. Marx erscheint hier als der konsequenteste Vertreter der Klassik, ein grundsätzlicher kategorialer Unterschied zu deren Analysen ist nicht mehr auszumachen.
Ein weiteres Moment ist mit dem traditionellen Verständnis von marxistischer Ökonomie in der Regel verbunden: Die Marxsche Kapitalismuskritik wird als Kritik an „ungerechten“ Verhältnissen aufgefaßt. Die Arbeitswertlehre erscheint als Legitimation des Anspruchs der Arbeiter und Arbeiterinnen auf das gesamte Produkt, so dass die „Ausbeutung“, von der Marx spricht, zu einer Verletzung von elementaren Gerechtigkeitsforderungen wird. In dieser Perspektive besteht das größte Defizit des Kapitalismus in einer falschen Verteilung, die dann entweder sozialstaatlich reformistisch oder revolutionär zu verändern ist.
Und schließlich findet sich häufig ein Begriff von „bürgerlicher Ideologie“, der diese als mehr oder weniger bewußte Verschleierung der wirklichen Verhältnisse auffaßt. Die zentrale Aufgabe einer marxistischen Ideologiekritik besteht dann in der Entlarvung: sie zeigt auf, wem diese oder jene Auffassung nützt. Zuweilen wird Ideologiekritik auch darauf reduziert, eine Auffassung aus der sozialen Position ihres Autors abzuleiten. Resultiert „bürgerliche Ideologie“ aus einem bestimmten Standpunkt oder Interesse, so wird dies umgekehrt auch für den Marxismus in Anspruch genommen: er verdanke sein „richtiges“ Bewußtsein dem „Standpunkt der Arbeiterklasse“ oder dem Interesse an einer Überwindung des Kapitalismus.
Anhaltspunkte für die skizzierten Auffassungen findet man zwar auch im Marxschen Kapital, allerdings läßt sich fragen, ob ausgehend von den drei genannten Elementen der traditionellen Auffassung nicht wesentliche Gehalte der Kritik der politischen Ökonomie verfehlt werden. Grundsätzlich in Frage gestellt wurde dieses traditionelle Verständnis einer „ökonomischen Theorie von Marx“ erst seit den 60er Jahren, als nicht zuletzt im Gefolge der studentischen Protestbewegungen und beeinflußt von den philosophischen und methodologischen Ansätzen des „westlichen Marxismus“ das Kapital in einer neuen Perspektive gelesen wurde: Es wurde nicht nur nach den Resultaten der Marxschen Darstellung gefragt, jetzt wurde verstärkt die methodische Struktur der Argumentation in den Blick genommen wurde. Dabei zeigte sich recht schnell, dass zwischen der traditionellen Auffassung, die im Kapital vor allem die Darstellung einer Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus sah,[2] und dem Marxschen Anspruch einer kategorialen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise „in ihrem idealen Durchschnitt“ (MEW 25: 839) eine erhebliche Differenz existierte. Dieses Ergebnis wurde in ganz unterschiedlichen theoretischen Kontexten formuliert: in Frankreich speiste sich die von Althusser (1965) und seinen Schülern geübte Kritik am „Historizismus“ vor allem aus dem Einfluß des Strukturalismus, während die verschiedenen Versuche einer Rekonstruktion der „Logik“ des Marxschen Kapital in der westdeutschen Diskussion (Backhaus 1969, Reichelt 1970, PEM 1973, Bader et al. 1974) stark von der Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie beeinflußt waren.
Mit der Untersuchung des kategorialen Aufbaus der Marxschen Argumentation geriet auch bald der Marxsche Anspruch in den Blick nicht einfach eine andere politische Ökonomie zu liefern (was in der traditionellen Auffassung ohne weiteres unterstellt wird), sondern eine Kritik der politischen Ökonomie: Gegenstand dieses emphatischen Begriffs von Kritik sind nicht nur einzelne Aussagen oder einzelne theoretische Ansätze, sondern die kategorialen Grundlagen, denen sich die Ökonomie als Wissenschaft verdankt. Nicht bloß die Irrtümer einzelner Ökonomen, ihre spezifischen Aussagen über Wert und Kapital sollen kritisiert werden, sondern die Art und Weise, in der Wert und Kapital überhaupt als Gegenstände ökonomischer Wissenschaft formiert werden.[3] Marx selbst hebt diesen Punkt immer wieder heraus, wenn er sich grundsätzlich auf die Theoriebildung der Klassik bezieht:
„Die politische Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen Wert und Wertgröße analysiert und den in diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt“ (MEW 23: 95, Herv. von mir).
Es sind also nicht allein die Resultate der Klassik, die Marx kritisiert, sondern ihre Fragestellungen bzw. das Fehlen bestimmter Fragen, was anzeigt, dass ihr bestimmte Formen als derart natürlich gelten, dass sie überhaupt nicht mehr hinterfragt werden müssen.
Eine solche Gegenstandsformierung kann aber nur dann unabhängig von den jeweiligen Fähigkeiten und Einsichten der einzelnen Ökonomen sein, wenn sie sich selbst einem bestimmten objektiven Zusammenhang verdankt, der sie überhaupt plausibel macht, ihr Evidenz verleiht. Es ist dieser Zusammenhang, den Marx als „Fetischismus“ bezeichnet: die „verkehrten“ Kategorien erhalten ihre Plausibilität aus der Anschauung eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, in welchem die Menschen ihre gesellschaftlichen Beziehungen über Dinge vermitteln, so dass ihnen ihre eignen Beziehungen als Beziehungen von Sachen erscheinen. Wenn Marx vom Fetischismus der Warenwelt spricht, so hat dies nichts mit der verbreiteten Rede von der Undurchschaubarkeit der modernen Welt oder mit der Sehnsucht nach einfachen Verhältnissen zu tun. Vielmehr geht es um die von der spezifischen Form des gesellschaftlichen Verkehrs selbst hervorgerufenen „objektiven Gedankenformen“ (MEW 23: 90), die sich als scheinbar natürliche Kategorien zur Analyse dieses Verkehrs anbieten, so dass dann umgekehrt diese spezifisch gesellschaftlichen Verhältnisse als unabänderliche „Naturform“ von Gesellschaft erscheinen. Kritik der politischen Ökonomie impliziert damit stets auch Erkenntniskritik: Kritik an Bewußtseinsformen innerhalb deren Erkenntnis gewonnen wird.[4]
Die Analyse des Fetischismus beschränkt sich allerdings nicht auf den berühmten Abschnitt über den Fetischcharakter der Ware aus dem ersten Band des Kapital, der häufig der ausschließliche Bezugspunkt entsprechender Debatten ist, sie zieht sich durch alle drei Bände des Kapital hindurch. Fetischisiert sind sämtliche bürgerlichen Produktionsverhältnisse, so dass Marx am Ende des dritten Bandes des Kapital von einer „verzauberten, verkehrten, auf den Kopf gestellten Welt“ (MEW 25: 838) sprechen kann, in der sich die „Agenten“ der bürgerlichen Produktionsweise (Arbeiter ebenso wie Kapitalisten) bewegen.
Damit wird auch die oben angesprochene Auffassung von Ideologie hinfällig, die Ideologie lediglich als von einem bestimmten Interesse ausgehendes falsches Bewußtsein auffaßt. Der bekannte Satz aus der Deutschen Ideologie, dass die Gedanken der Herrschenden die herrschenden Gedanken seien (MEW 3: 46), blendet den entscheidenden Punkt gerade aus: die grundlegenden „Verkehrungen“ in der Auffassung der bürgerlichen Gesellschaft werden überhaupt nicht bewußt produziert, ihnen unterliegen zunächst einmal alle ihre Mitglieder. Marx stellt dies bei seiner Analyse der Lohnform besonders deutlich heraus: der Lohn als „Preis der Arbeit“ (statt als Preis der Arbeitskraft) sei ein „imaginärer Ausdruck“, aber einer der aus den Produktionsverhältnissen selbst entspringt (MEW 23: 559); auf der Lohnform aber, „beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten“ (MEW 23: 562, Herv. von mir).[5]
Im Rahmen dieses Kritikkonzeptes ist dann auch eine Kritik am Kapitalismus aufgrund seiner „Ungerechtigkeit“ nicht mehr möglich. Vor allem die im Kapital zumeist nur noch indirekt oder in Fußnoten geführte Auseinandersetzung mit Proudhon macht deutlich, dass Marx Gerechtigkeitsvorstellungen keineswegs aus dem von der bürgerlichen Gesellschaft produzierten Verkehrungszusammenhang ausnimmt: Was als Prinzipien „ewiger Gerechtigkeit“ erscheint, erhält seine Plausibilität nur unter spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen (vgl. z.B. MEW 23: 99, Fn 38; 613, Fn 24 und vor allem MEW 25: 351f), einer rationalen Begründung sind Gerechtigkeitsnormen daher gar nicht zugänglich. Daher verzichtet Marx auch darauf, den Kapitalismus als „ungerecht“ zu kritisieren: Die Pointe der Marxschen Analyse des Austauschs zwischen Kapital und Arbeit besteht ja gerade darin aufzuzeigen, dass die Aneignung von Mehrwert keineswegs die Verletzung der Gesetze des Äquivalententausches zur Voraussetzung hat - was die moralische Kapitalismuskritik z. B. der Linksricardianer immer schon unterstellt. Die verschiedenen Ansätze bei Marx doch noch eine irgendwie geartete moralische Kapitalismuskritik aufzufinden (etwa bei Wildt 1986, 1997), begnügen sich in der Regel mit dem Versuch, einzelne Argumentationsstränge als moralisch nachzuweisen, ohne sich jedoch mit der bei Marx angelegten grundsätzlichen Kritik an der Möglichkeit der Begründung moralischer Urteile überhaupt auseinanderzusetzen (vgl. zur Kritik an solchen Versuchen u.a. Haug 1986, Heinrich 1999: 372ff).
Dass Marx den Kapitalismus ablehnt ist unbestritten, nur begründet er diese Ablehnung nicht mit Hinweis auf irgendwelche moralischen Grundsätze, denen doch alle zustimmen müßten. Vielmehr will er mit seiner Analyse des Kapitalismus aufzeigen, dass sich die als Verwertungsprozeß organisierte Produktion zwangsläufig (also unabhängig vom Wollen des einzelnen Kapitalisten) auf Kosten der Lebensbedingungen der Arbeiter und Arbeiterinnen, entwickelt, unabhängig davon ob die Löhne hoch oder niedrig sind (vgl. etwa MEW 23: 449; 529f; 674f). Daraus schöpft Marx die Hoffnung, dass diese den Kapitalismus eines Tages abschaffen werden: nicht weil sie im Kapitalismus irgendeine normative Grundlage verletzt sehen, sondern weil sie ein Interesse an einem guten Leben haben, das sich unter der Herrschaft des Kapitals nicht realisieren läßt.