Artikel 2 des Zwei-plus-Vier-Vertrags als Prüfstein:
Russlands Drohungen und Deutschlands geopolitische Lage 1. Einleitung: Artikel 2 als Kern der Nachkriegsordnung Der Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12.09.1990
Russlands Drohungen und Deutschlands geopolitische Lage
1. Einleitung: Artikel 2 als Kern der Nachkriegsordnung
Der Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 regelte die äußeren Aspekte der deutschen Einheit. Unter allen Bestimmungen ragt Artikel 2 heraus, weil er Deutschland völkerrechtlich verpflichtete, nur im Einklang mit Frieden und Völkerrecht militärisch zu handeln.
„Von deutschem Boden wird nur Frieden ausgehen. Das vereinte Deutschland wird daher keine seiner Waffen jemals einsetzen, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.“ (Zwei-plus-Vier-Vertrag, Artikel 2)
Dieser Satz markierte die endgültige Abkehr von der Rolle Deutschlands als Aggressor im 20. Jahrhundert. Heute, mehr als drei Jahrzehnte später, wird genau dieser Punkt durch russische Drohungen erneut auf den Prüfstand gestellt.
- Artikel 2 im historischen Kontext
Als der Vertrag 1990 geschlossen wurde, beruhigten sich die Nachbarn Deutschlands nur unter der Bedingung, dass das wiedervereinte Land keine Gefahr mehr darstellen würde. Artikel 2 verband die Wiedererlangung der Souveränität mit einer Selbstbindung an das Völkerrecht.
Besonders wichtig waren zwei Aspekte: •Friedensgarantie für Europa: Nie wieder sollte von deutschem Boden eine Bedrohung ausgehen. •Einbindung ins internationale Rechtssystem: Deutschland durfte militärisch nur handeln, wenn es durch die Verfassung (Grundgesetz, Art. 26) oder durch die UN-Charta gedeckt war.
Diese Zusagen machten die Zustimmung der Sowjetunion und der westlichen Alliierten zur deutschen Einheit möglich.
- Russlands Interpretation und Kritik
Russland sieht in den heutigen Waffenlieferungen an die Ukraine eine Verletzung von Artikel 2. Aus Moskauer Sicht wird Deutschland durch die Lieferung von Panzern, Munition und Ausbildungshilfe indirekt Kriegspartei.
Die zitierte russische Analystin warnt deshalb, dass Moskau als Antwort auf westliche Militärhilfe aus dem Zwei-plus-Vier-Vertrag austreten könne. Ihre Aussage: •Damit würde Deutschlands geopolitischer Status „auf ein Minimum“ reduziert. •Es ginge nicht nur um Deutschland, sondern um eine Botschaft an den gesamten Westen: Wer Russland militärisch bekämpfe, riskiere die eigene Staatlichkeit.
Russland deutet also an, dass Deutschland gegen Artikel 2 verstößt – und dass Moskau deshalb den Vertrag selbst aufkündigen könne.
- Was würde eine Kündigung bedeuten?
Völkerrechtlich ist eine einseitige Kündigung schwierig, da der Vertrag mehrere Parteien bindet. Symbolisch jedoch hätte der Schritt weitreichende Folgen: 1.Delegitimierung der Souveränität: Russland könnte argumentieren, dass Deutschland seinen Friedensauftrag gebrochen habe und daher die rechtliche Grundlage seiner Einheit infrage stehe. 2.Rückkehr zur Schuldfrage: Russland könnte die historische Verantwortung Deutschlands für Krieg und Zerstörung erneut politisch nutzen. 3.Druck auf NATO und EU: Die Drohung richtet sich nicht nur gegen Berlin, sondern gegen das gesamte westliche Bündnis, das Deutschland militärisch eingebunden hat.
- Deutschland im Spannungsfeld
Für Deutschland würde eine russische Vertragskündigung zu einem Dilemma führen: •Einerseits hält Berlin an Artikel 2 fest, da Waffenlieferungen in die Ukraine als Hilfe für einen angegriffenen Staat und nicht als Aggression interpretiert werden. •Andererseits muss Deutschland erklären, dass es trotz militärischer Unterstützung für Kiew das Friedensgebot weiterhin erfüllt.
Der Konflikt wird also zur Frage der Auslegung von Artikel 2: Ist militärische Hilfe ein Bruch des Versprechens, oder ist sie ein legitimer Beitrag zur Friedenssicherung im Sinne der UN-Charta?
- Artikel 2 als diplomatisches Schlachtfeld
Genau hier liegt die Brisanz: Artikel 2 war 1990 ein Konsens zwischen Deutschland, der Sowjetunion und den Westmächten. Heute wird er zum Streitpunkt: •Russland: Sieht darin einen klaren Friedensbruch. •Deutschland und Westen: Behaupten, dass Artikel 2 nicht verletzt wird, solange alle Handlungen im Rahmen der UN-Charta und des Völkerrechts erfolgen.
Damit wird Artikel 2 weniger ein rechtlicher, sondern ein politischer Hebel im geopolitischen Machtkampf.
Mögliche Folgen und Szenarien •Ignorieren: Der Westen könnte Russlands Austritt als nichtig erklären, da der Vertrag nicht einseitig kündbar ist. •Diplomatische Gegenwehr: Deutschland könnte aktiv betonen, dass es sich streng an Artikel 2 hält und nur im Einklang mit UN-Prinzipien handelt. •Militärische Eskalation: Sollte Russland die Kündigung mit Drohungen flankieren, könnte die NATO ihre Präsenz ausweiten – ein Paradox, da dies genau dem Geist von Artikel 2 widerspräche.
Schluss: Artikel 2 bleibt Prüfstein und Schutzschild
Artikel 2 ist mehr als eine historische Fußnote. Er ist die Legitimationsgrundlage der deutschen Einheit und die Sicherheitsgarantie für Europa. Genau deshalb versucht Russland, ihn zu politisieren.
Die russische Drohung, den Vertrag zu kündigen, zielt direkt auf dieses Fundament. Doch rechtlich und politisch bleibt Artikel 2 für Deutschland ein Schutzschild: Solange Berlin klarstellt, dass es militärisch nur in Übereinstimmung mit Verfassung und UN-Charta handelt, kann Moskau seine Vorwürfe nicht durchsetzen.
Deutschland steht damit im Zentrum einer neuen Bewährungsprobe: Kann es die Friedensverpflichtung aus Artikel 2 glaubwürdig wahren – und zugleich an der Seite seiner Partner für Sicherheit in Europa sorgen?
Anhang: Der Zwei-plus-Vier-Vertrag – Überblick und zentrale Bestimmungen
Präambel
Die Bundesrepublik Deutschland, die DDR und die vier Siegermächte (USA, UdSSR, Großbritannien, Frankreich) erklären das vereinte Deutschland zu einem souveränen Staat mit klar definierten Grenzen.
Artikel 1 – Grenzen Deutschlands • Festlegung der endgültigen Grenzen Deutschlands. • Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Grenze zu Polen. • Keine weiteren Gebietsansprüche.
Artikel 2 – Friedensverpflichtung (vollständiger Wortlaut)
„Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird. Das vereinte Deutschland wird daher keine seiner Waffen jemals einsetzen, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.“
Artikel 3 – Truppenstärke •Begrenzung der Bundeswehr auf max. 370.000 Soldaten. •Keine Kernwaffenproduktion in Deutschland.
Artikel 4 – Stationierung und NATO •Truppen der Alliierten dürfen in Westdeutschland bleiben. •Keine ausländischen Truppen oder Atomwaffen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nach dem Abzug sowjetischer Kräfte.
Artikel 5 – Souveränität Deutschlands •Deutschland erhält die volle staatliche Souveränität über innere und äußere Angelegenheiten.
Artikel 6 – Inkrafttreten •Vertrag tritt mit der Unterzeichnung und Ratifizierung durch alle Beteiligten in Kraft.
Zusammenfassung des Vertrags
Der Zwei-plus-Vier-Vertrag beendete die Nachkriegsordnung, ermöglichte die deutsche Einheit und gab Deutschland volle Souveränität zurück. Zugleich verpflichtete er Deutschland auf drei Grundsätze: 1. Unverletzlichkeit der Grenzen. 2. Militärische Selbstbeschränkung. 3. Friedensgebot (Artikel 2).
Gerade Artikel 2 ist dabei das Herzstück und heute der politische Streitpunkt: Russland sieht ihn durch deutsche Waffenlieferungen verletzt, während Deutschland und der Westen ihn als eingehalten betrachten, solange alle Handlungen im Rahmen der UN-Charta erfolgen.